102.000 verlorene Lebensjahre
Die akute Typ-A-Dissektion (ATAAD) ist einer der dringlichsten Notfälle in der Herzmedizin. Dabei reißt – meist ohne vorherige Symptome – die innerste Wandschicht der Hauptschlagader (Aorta) ein. Eindringendes Blut vergrößert diesen Spalt immer weiter. Von der Aorta abgehende Gefäße können dadurch abgedrückt werden, und durch Einblutung in den Herzbeutel kann es zum Herzstillstand kommen. Einzige Therapie dieser akut lebensbedrohlichen Erkrankung ist eine möglichst schnelle, aufwändige Operation in einem spezialisierten Zentrum.
Oft zu spät erkannt
Die Typ-A-Dissektion wird allerdings oft nicht rechtzeitig erkannt oder mit dem – wesentlich häufigeren – Herzinfarkt verwechselt. So kann es zu Verzögerungen im Transport kommen, die sich für die betroffenen Patientinnen und Patienten fatal auswirken. Eine weitere wichtige Rolle bei der Ergebnisqualität spielt das Behandlungsvolumen der versorgenden Herzchirurgie: Je häufiger der Eingriff vorgenommen wird, umso eingespielter und erfahrener sind die OP- und Intensivteams.
Ein internationales Team um den Kardioanästhesisten und Notfallmediziner PD Dr. Stephan Kurz vom Deutschen Herzzentrum der Charité (DHZC) hat die Auswirkungen dieser Faktoren für die Patientinnen und Patienten eingehend untersucht und die Ergebnisse im BMJ Open veröffentlicht.
„Years of Life Lost“ als Maßstab für Versorgungsqualität
Die Forschenden quantifizierten diese Auswirkungen in Form von "Years of Life Lost" (YLL), auf Deutsch „verlorene Lebensjahre“. Diese Maßzahl gibt die Anzahl der Jahre an, die durch vorzeitigen Tod infolge einer Krankheit in Bezug auf die statistische Lebenserwartung verloren gehen: Wenn ein Mensch im Alter von 50 Jahren stirbt und die durchschnittliche Lebenserwartung 80 Jahre beträgt, dann resultieren daraus 30 verlorene Lebensjahre (80 minus 50 Jahre).
Die akute Typ-A-Dissektion ist einer der dringlichsten Notfälle in der Herzmedizin. Oft wird sie jedoch zu spät erkannt. Ein internationales Team hat untersucht, welche Auswirkungen Faktoren wie die Geschwindigkeit der Erstversorgung, die Qualität der Behandlung und das Behandlungsvolumen der Kliniken auf die Lebenserwartung der Patient:innen haben.
Das Bild zeigt Studienleiter Dr. Stephan Kurz (links) und Stanford-Statistiker Philipp Schiele (rechts).
Ergebnisse der Studie
Die Studie schätzt, dass jährlich rund 102.800 Lebensjahre in Deutschland durch ATAAD verloren gehen. Eine detaillierte Analyse ergab, dass sowohl die Geschwindigkeit der Erstversorgung als auch die Qualität der Behandlung und das Behandlungsvolumen der Kliniken wesentliche Einflussfaktoren auf die YLL sind.
So konnte die Studie durch die Simulation verschiedener Versorgungsszenarien zeigen, dass eine verbesserte Versorgung die verlorenen Lebensjahre um etwa 9,3 Prozent reduzieren könnte, während ein Verschlechterungsszenario zu einer Erhöhung der verlorenen Lebensjahre um 10 Prozent führen könnte.
Interaktives Dashboard zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen
Erstautor der Studie ist der Statistikwissenschaftler Philipp Schiele, Postdoktorand an der Stanford University in Kalifornien. Basierend auf einer systematischen Literaturübersicht und demografischen Daten aus dem deutschen Gesundheitssystem entwickelte Schiele ein interaktives Dashboard, das unter acuteaorticdissection.com zugänglich ist. Dieses Tool ermöglicht es Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen, verschiedene Szenarien zu simulieren und die Auswirkungen auf die YLL zu visualisieren.
Das Dashboard verdeutlicht, wie Veränderungen in einzelnen Versorgungsabschnitten den gesamten Versorgungsprozess beeinflussen können.
Die potenziellen Vorteile schnellerer und qualitativ hochwertigerer Versorgungsstrategien sowie die Auswirkungen einer Zentralisierung durch ein höheres Behandlungsvolumen werden auf diese Weise unmittelbar nachvollziehbar gemacht.
Einschränkungen
Die Forschenden benennen in ihrer Publikation auch einige Einschränkungen: So seien Verzerrungen der Ergebnisse möglich, indem die Studie auf Modellierungen und veröffentlichten Daten basiere. Zudem fokussiere sich die Untersuchung auf Deutschland, was die Übertragbarkeit der Ergebnisse einschränke. Diese Einschränkungen unterstreichen nach Ansicht der Autoren die Notwendigkeit weiterer Forschungen.
Schlussfolgerungen und Empfehlungen
„Unsere Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit, sowohl die Schnelligkeit der Notfallversorgung als auch die Qualität der spezialisierten Behandlung zu verbessern“, erklärt Studienleiter Stephan Kurz. „Wir sind überzeugt, dass eine gezielte Förderung spezialisierter Zentren, eine Optimierung der Notfallprotokolle und gezielte Awareness-Kampagnen die Sterblichkeit dieser Erkrankung weiter senken können.“
Die Studie schätzt, dass jährlich rund 102.800 Lebensjahre in Deutschland durch die Typ-A-Dissektion verloren gehen. „Unsere Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit, sowohl die Schnelligkeit der Notfallversorgung als auch die Qualität der spezialisierten Behandlung zu verbessern“, erklärt Studienleiter Stephan Kurz vom DHZC.