ResKriVer-TAVI
Die Sicherung der medizinischen Infrastruktur zählt zu den prioritären Aufgaben während kurzfristiger lokaler oder längerfristiger nationaler Krisen- und Katastrophensituationen. Ein Bereich in dieser komplexen Aufgabe ist die Sicherstellung der Behandlung von elektiven Hochrisikopatienten. In der klinischen Studie „ResKriVer-TAVI“ (DRKS00027842) soll ein System sowohl für Normalbedingungen als auch Krisensituationen erforscht und entwickelt werden, welches es ermöglicht, eine Verschlechterung des Zustandes und eine Übersterblichkeit von Patient*innen mit lebensbegrenzenden chronischen Erkrankungen und dringlichem Bedarf für einen operativen Eingriff zu verringern.
Die hohe Zahl infizierter Personen während einer Pandemie wie COVID-19 bedeutet eine massive Herausforderung, insbesondere für Krankenhäuser der Maximalversorgung (d. h. Krankenhäuser mit großer Versorgungskapazität). In kurzer Zeit werden große Teile der diagnostischen (z.B. Computertomographiekapazitäten) und der therapeutischen Ressourcen (z.B. Beatmungsplätze auf Intensivstationen) für die Behandlung einer einzigen Erkrankung (z.B. COVID-19 Patient*innen) benötigt. Es entsteht somit plötzlich eine Ressourcenverknappung für alle nicht-pandemie- bzw. nicht-krisen-bedingten Versorgungsaufgaben. Bedingt durch die Verknappung und damit Nichtbehandlung weiterer Patient*innen erhöht sich ebenfalls die Sterblichkeit bei anderen Erkrankungen.
Am Beispiel von Patient*innen mit einer hochgradigen Aortenklappenstenose soll das o.g. System entwickelt werden. Die hochgradige Aortenklappenstenose ist die am häufigsten vorkommende Form eines Herzklappenfehlers im höheren Lebensalter und stellt eine Verengung der verkalkten Herzklappe dar, welche mittels Herzkatheter-gestützter Aortenklappenimplantation (TAVI) versorgt wird. Bei diesen Patient*innen ist die TAVI ein hochspezialisierter komplexer Eingriff, der die Krankheitslast und Sterblichkeit von Hochrisiko-Patient*innen mit einer symptomatischen Aortenklappenstenose reduziert. Die zumeist älteren Patient*innen haben bei symptomatischem Verlauf einer Aortenklappenstenose eine Sterblichkeit von ca. 50% pro Jahr, wenn die Erkrankung nur medikamentös behandelt wird [1].
Mit 21.059 Behandlungen (davon ca. 95% bei Patient*innen ab 70 Jahren) im Jahr 2018 gehört die TAVI zu den häufigsten Herzkatheter-gestützten Therapien bei älteren Patient*innen in Deutschland [2], mit steigender Tendenz. Zur Verbesserung der Prozessqualität dürfen TAVI-Eingriffe in Deutschland nur in ausgewählten Zentren, die die strengen Strukturvorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) erfüllen, durchgeführt werden. In vielen Bundesländern erfüllen dies nur ein bis zwei Krankenhäuser der Maximalversorgung. Im Rahmen der SARS-CoV-2-Pandemie waren und sind diese Krankenhäuser häufig zugleich in die Versorgung schwer an COVID-19 erkrankten Patient*innen eingebunden, was mit Einschränkungen des elektiven OP-Betriebs und damit einer Verlängerung der Wartezeit auf den geplanten TAVI-Eingriff verbunden ist.
Eine Reduktion der elektiven TAVI-Eingriffe um 30-50% in der Charité, wie sie in der Pandemiesituation seit November 2020 bestand, führt zu einer entsprechenden Verlängerung der Wartezeit der Patient*innen und hat somit einen signifikanten Einfluss auf deren Überlebenschancen. Um auch während der Pandemie oder anderen Krisensituationen Patient*innen trotz reduzierter Ressourcen optimal zu versorgen, wurde an der Charité ein Score für die Abschätzung des individuellen Mortalitätsrisikos von Patient*innen auf der Warteliste entwickelt. Dieser Score beschreibt das sogenannte Basisrisiko der Patient*innen, mit dessen Hilfe die Reihenfolge der Zuweisung der Patient*innen zum Eingriff festgelegt wird. Auf dieser Basis müssen in Nicht-Pandemiesituationen ca. 70% der Patient*innen nach abgeschlossener Diagnostik im Durchschnitt vier Wochen auf den Eingriff warten; in 30% der Fälle werden die Patient*innen nach der Diagnostik nicht mehr nach Hause entlassen, sondern während des gleichen stationären Aufenthaltes mittels einer TAVI versorgt. Unter Pandemiebedingungen bedeutet bereits eine Einschränkung der Operationskapazität um 10% für diese 70% der als elektiv geltenden Hochrisiko-Patient*innen eine Verlängerung der Wartezeit auf im Schnitt sechs Wochen.
Ein innovativer Lösungsansatz besteht in der engmaschigen telemedizinischen Betreuung dieser wartenden Hochrisiko-Patient*innen, um eine Verschlechterung ihres Zustands frühzeitig zu identifizieren. So können zum einen die o.g. Übersterblichkeit, zum anderen auch eine akute Verschlechterung mit Zunahme von Luftnot, Brustschmerzen, Schwindel und Ohnmachtsanfällen verringert werden. Im Idealfall erfolgt wir so die TAVI im für den Patienten bestmöglichen Gesundheitszustand.
Inhaltlich besteht die digitale Mitbetreuung aus
- der täglichen Nutzung von fünf telemedizinischen Messgeräten (EKG, Waage, Blutdruck, Sauerstoffsättigung und Selbsteinschätzung der Patient*innen) und der mobilfunkbasierten, verschlüsselten Datenübertragung an das Telemedizinzentrum;
- telefonische Kontaktaufnahme zu den Patient*innen bei auffälligen Messergebnissen sowie
- dem Austausch zu mitbehandelnden Ärzt*innen (Haus- und Fachärzt*innen), Rettungsdiensten, Gesundheitsämtern und anderen Gesundheitsdienstleistenden (Pflegedienste, Altenheime).
Ein weiterer Weg für eine Optimierung des TAVI-Therapiemanagements unter Pandemiebedingungen besteht in einer Verkürzung der stationären Aufenthaltsdauer. Zu den typischen Komplikationen des TAVI-Verfahrens zählt ein erhöhtes Risiko für eine Herzschrittmacherbedürftigkeit (4-24%). Darüber hinaus gehören die Detektion von Vorhofflimmern sowie die Blutdruckmessung zur obligatorischen postoperativen Überwachung, um das Mortalitätsrisiko zu senken [3, 4]. Auch hierbei sind telemedizinische Verfahren gut geeignet. Die Durchführung der TAVI bei bestmöglichem Gesundheitszustand der Patient*innen könnte eine Verkürzung der stationären Aufenthaltsdauer ermöglichen, was wiederum die Behandlungskapazität eines Zentrums erhöhen kann.
Im Rahmen des ResKriVer-Projekts wird ein Modell – basierend auf künstlicher Intelligenz – für eine adäquate TAVI-Versorgung unter Krisenbedingungen entwickelt. Dieses Modell wird einerseits auf der Basis historischer Daten zur Behandlung von TAVI-Patient*innen aus den Jahren 2019 bis 2021 der Charité-Universitätsmedizin Berlin und andererseits aus aktuell ermittelten Daten einer klinischen Studie erstellt. In einer zweiten Studienphase soll das Modell validiert werden. Neben dem Charité-Score zur Bestimmung des Basisrisikos der Patient*innen gehen Informationen zur Dauer bis zum Eingriff und zum klinischen Verlauf während der Wartezeit sowie die insbesondere in Krisensituationen begrenzt verfügbaren Personal- und Krankenhausressourcen zur ressourcen-beschränkten, optimalen Behandlungsplanung in die Modellierung ein. Ziel hierbei ist die Entwicklung eines Ansatzes der auch auf andere Erkrankungen von Hochrisiko-Patient*innen übertragbar wäre, dessen Modellparameter sich an die aktuellen Fälle anpassen und der insbesondere auch in anderen Krisen- und Katastrophensituationen nutzbar ist.
Ansprechpartner:
TAVI-Prozedur & Studienleiter:
Prof. Dr. Henryk Dreger
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Campus Charité Mitte
Charitéplatz 1, 10117 Berlin
Telemedizinische Mitbetreuung & Studienleiter
Prof. Dr. Friedrich Köhler
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Campus Charité Mitte
Charitéplatz 1, 10117 Berlin
KI-Modellierung
Prof. Dr. Thomas Hoppe
Fraunhofer FOKUS
Kaiserin-Augusta-Allee 31, 10589 Berlin
Referenzen:
- Albassam O, Henning KA, Qiu F, Cram P, Sheth TN, Ko DT, et al. Increasing Wait-Time Mortality for Severe Aortic Stenosis: A Population-Level Study of the Transition in Practice From Surgical Aortic
- IQTIG – Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen. Qualitätsreport 2019, URL: https://iqtig.org/downloads/berichte/2018/IQTIG_Qualitaetsreport-2019_2019-09-25.pdf (letzter Zugriff: 05.04.2022)
- Van Rosendael PJ, Delgado V, Bax JJ. Pacemaker implantation rate after transcatheter aortic valve implantation with early and new-generation devices: a systematic review. European heart journal. 2018;39(21):2003-13.
- Agasthi P, Ashraf H, Pujari SH, Girardo ME, Tseng A, Mookadam F, et al. Artificial intelligence trumps TAVI(2)-SCORE and CoreValve Score in predicting 1-year mortality post Transcatheter Aortic Valve Replacement. Cardiovasc Revasc Med. 2020.